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REZENSIONEN DES BUCHES "FLUCHT UND AUSREISE"
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Bonner Generalanzeiger


"Flucht und Ausreise"
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AUSREISE (Textstelle aus: „Flucht und Ausreise“, S. 113 ff.)

Die erste Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 hatte bereits das Recht auf Freizügigkeit festgeschrieben: Im Artikel 10 hieß es: „Jeder Bürger ist berechtigt, auszuwandern. Dieses Recht kann nur durch Gesetz der Republik beschränkt werden.“ Die Verfassungen von 1968 und 1974 (Artikel 32) schränkten ein: „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat im Rahmen der Gesetze das Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Staatsgebietes ...“

1973 wurde die DDR in die UNO aufgenommen. Das hieß, daß sich nunmehr auch die Bürger in der DDR auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte berufen konnten, um legal das Land zu verlassen. Die Teilnehmerstaaten der 1975er KSZE-Konferenz in Helsinki verpflichteten sich, Anträge auf Familienzusammenführung „so zügig wie möglich“ zu behandeln und „schrittweise die Verfahren für die Aus- und Einreise zu vereinfachen und flexibel zu handhaben“. Doch nur selten erfüllten die Antragsteller die Kriterien dieses von den DDR-Behörden bewußt restriktiv angewandten Gesetzestextes. Weit über 400.000 DDR-Bürger stellten Übersiedlungsanträge in die BRD, die jedoch bis Herbst 1989 nur zu einem geringen Teil genehmigt wurden. Bereits 1983 lagen der Bundesregierung etwa 20.000 Anliegen vor, aus der DDR in die BRD übersiedeln zu wollen. EISENFELD nennt die Zahl 450.000, „die als Familien und Einzelpersonen (der Anteil der Kinder lag bei etwa 25 Prozent)“ zwischen 1975 und 1988 „rechtswidrige“ Ersuchen eingereicht hatten.

Sowohl die SED als auch die von ihr ideologisierten staatlichen Institutionen wie MdI, DVP, MfS, welche für die legale Möglichkeit der Ausreise zuständig waren, wähnten sich „nicht in der Lage bzw. nicht willens, einen Ausreiseantrag als Ausdruck der Wahrnehmung eines anerkannten Menschenrechts zu behandeln. Sie unterstellten dem Antragsteller ein Ferngesteuertsein durch westliche Medien oder kriminalisierten ihn als 'feindlich-negative' Person, sobald sein Ersuchen politische Brisanz aufwies und mehr als der Wohnungswechsel zum Ort etwa einer pflegebedürftigen Verwandten.“ darstellte. In der Tat handelte es sich nur bei den wenigsten dem Gesetzestext getreu um eine entsprechende „Familienzusammenführung“.

Mit Hilfe des MfS gelang es den Machthabern in der DDR zunächst, die Motive des von immer mehr Menschen gewollten Weggangs zu tabuisieren, mindestens jedoch aus dem öffentlichen Bewußtsein und der öffentlichen Diskussion zu verdrängen. Ein Kompendium des MdI der DDR „zur Qualifizierung des Prozesses der Unterbindung und Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen“ aus dem Jahre 1985 läßt deutlich werden, „mit welchen Bauchschmerzen die Staatsführung der DDR die KSZE-Dokumente unterschrieben haben mußte und mit welch selbstgefälliger Propaganda“ die SED-Funktionäre den Ausreiseantragstellern beizukommen versuchten. In den zur damaligen „zentralen Weiterbildung“ gedachten Schulungsmaterialien wird vehement bestritten, daß für die „Bürger im Sozialismus ... eine objektive Notwendigkeit“ bestünde, „ihren sozialistischen Staat zu verlassen“ und es schon deshalb kein „Ausreiserecht“ geben könne, weil „ein solches Recht dem Sinn des Sozialismus - alles zu tun für das Wohl des Volkes und damit auch für das Glück des Einzelnen - widersprechen“ würde.

Nicht etwa die Erforschung der Ursachen und Motive des Ausreisewillens oder gar deren Beseitigung standen im Vordergrund, sondern einfach nur Strategie und Taktik der Unterbindung und „Zurückdrängung“ respektive das Erschweren von Übersiedlungsversuchen. Dies erfolgte mittels bürokratischer Hindernisse wie zum Beispiel zahlreicher, sich wiederholender Vorsprachen, darauf folgender unklarer Antworten (Hinhaltetaktik) oder Zwang zur Vorlage von Dokumenten, Bestätigungen, Stempeln usw. Eingaben und Petitionen an höhere Instanzen wurden stets an die „zuständigen Organe“ - die Räte der Stadtbezirke und Kreise, Abteilungen Inneres - zurück verwiesen; nicht selten von der MfS-Postkontrolle abgefangen und einbehalten.

Selbst bei den für Antragsteller von vornherein positiv kalkulierten Entscheidungen gestalteten sich die Wege vom Zeitpunkt der Antragstellung bis zum Ausreisetermin unterschiedlich lang und stets undurchschaubar; nicht zuletzt deshalb, weil es für die Petenten keine Möglichkeiten gab, in die vom MfS erstellten Verordnungen und Durchführungsbestimmungen - mitunter handelte es sich schlicht um Befehle - Einsicht zu nehmen. „Allein und ohne die Chance, an die Öffentlichkeit gehen zu können, wurde der Ausreisewillige zum Spielball der Behörden degradiert.“

Die Zeit, in der Ausreisewillige sich konstruktiv zur Wehr zu setzen versuchten, war vorprogrammiert: Bereits 1974 demonstrierten Ausreisewillige für das in der oben genannten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verbriefte Recht, die DDR zu verlassen.

Die DDR-Behörden, insbesondere das Ministerium für Staatssicherheit, standen Menschen, die das Regime verlassen wollten, zunächst ohnmächtig gegenüber. Schnell erkannten sie, daß es sich bei dem unbedingten Wille, das Land zu verlassen, nicht nur um „einen Akt der Undankbarkeit“ handelte, sondern vor allem um einen „volkswirtschaftlichen Verlust“. Im Jahre 1987 stellte MIELKE fest, daß sich unter den „Übersiedlungsersuchenden, aber gleichermaßen auch unter den Personen, die die DDR ungesetzlich verlassen haben, ... in erheblicher Anzahl Hoch- und Fachschulabsolventen und andere hochqualifizierte Kader“ aus wichtigen volkswirtschaftlichen Bereichen befanden; nämlich 10,2 Prozent Hoch- und Fachschulabsolventen und 48,1 Prozent Facharbeiter. „Ich brauche nicht weiter darauf einzugehen, welch ökonomischer und anderer Schaden sich daraus für die DDR ergibt.“

In der allgemeinen Zunahme des Ausreisebegehrens sah das MfS in erster Linie den Versuch des „Gegners“, in immer stärkerem Maße „das Problem der Übersiedlungsbestrebungen zur Ausübung massiven politischen Drucks auf die DDR auszunutzen“. MIELKE kritisierte in diesem Zusammenhang die Abarbeitung von Listen, die von westlichen Politikern „an Repräsentanten der DDR herangetragen“ wurden, wo-durch „enormer Druck zur Genehmigung von Übersiedlungen“ entstünde dem „künftig ... konsequenter entgegengewirkt“ werden müsse. Grundsätzlich dürfe die Übersiedlung nicht so organisiert werden, daß sich daraus ein „gewisser Automatismus“ für die Übersiedlung in die BRD entwickelt. „Eine diesbezügliche Sogwirkung muß unter allen Umständen verhindert werden. Deshalb sind ... strenge Maßstäbe für eine Entscheidung zur Übersiedlung anzuwenden.“ Dies hinderte den Bayerischen Ministerpräsidenten, Franz-Josef STRAUSS, nicht, am BMB vorbei gemeinsam mit Kanzleramtsminister Philipp JENNINGER und Alexander SCHALCK-GOLODKOWSKI, dem Staatssekretär im DDR-Außenhandelsministerium, einen Deal zu vereinbaren, den Wolfgang VOGEL als „Südschiene“ bezeichnete. So ging es im Juli 1984 zunächst um die Abarbeitung einer Liste von 144 DDR-Ausreisewilligen (siehe Anhang, S. 545-547).

Bereits der Versuch, eine Ausreisegenehmigung zu erhalten, konnte in den siebziger Jahren neben politischer Verfolgung zu einer Haftstrafe führen. Die unberechenbare Praxis des Umgangs mit Ausreiseantrag-stellern wurde bis zum Jahr 1983, in vielen Einzelfällen noch danach, geübt. Selbst diejenigen DDR-Bürger, die sich auf die im Zusammenhang mit der Entspannungspolitik und dem KSZE-Prozeß entstandene „Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern“ vom 15.9.1983 beriefen, mußten mit schlimmen Repressionen rechnen. Hierzu einige Beispiele:

Frau Anneliese TÄNZER wurde nach einer Demonstration festgenommen, 13 Stunden verhört und schließlich wieder freigelassen. Auf ihrem Brustplakat stand der Text: „Ich fordere meine Ausreise zu meinen 3 Kindern in die BRD!“ Nach erneuter Drohung und Festnahme - diesmal 24 Stunden - wurde sie schließlich in den Westen entlassen. Ähnlich erging es dem Ehepaar NUTHMANN am 18.4.1974, das nach einer Demonstration auf dem Ostberliner S-Bahnhof Alexanderplatz zunächst mehrere Stunden verhört und der Ehemann in eine geschlossene Nervenheilanstalt eingewiesen wurde. Da das ärztliche Gutachten kein „gesellschaftsgefährdendes Verhalten“ ausdeutete, durfte das Ehepaar nach einer Woche übersiedeln. Diese Fälle blieben jedoch die Ausnahme.

Den folgenden Einzeldemonstrationen begegnete das MfS mit rigorosen Strafmaßnahmen, die abschreckend wirken sollten. Das Ehepaar Siegfried und Rita MÜLLER beispielsweise erhielt 6 Jahre bzw. 2 Jahre und 6 Monate Haft, ihre beiden Kinder wurden in ein staatliches Heim gesteckt. Ihr Plakat war mit dem Satz „DDR verstößt gegen Menschenrechte“ beschriftet.

Ausreisewillige, die als „Straftäter“ verurteilt wurden, hatten einen „angemessenen Teil“ der Strafe zu verbüßen und konnten erst, „nach zentraler Entscheidung“ auf der Grundlage bestimmter Weisungen des MfS-Ministers übersiedeln.

Anfang der achtziger Jahre registrierten die DDR-Behörden besorgniserregend, daß Ausreisewillige aufgrund von „Gruppenbildung“ gemeinsame Aktionen planten und diese teilweise öffentlichkeitswirksam gestalteten. Da sich die Antragsteller prinzipiell an geltende Gesetze hielten, zudem das Dach der schützenden Kirche nutzten, gelang es den Staatsorganen trotz größter Bemühungen nur selten, ihnen Handlungen von „strafrechtliche Relevanz“ nachzuweisen. In Jena entwickelte sich 1983 eine Initiative mit etwa 30 Personen, die sich, weiß gekleidet, jeden Samstag zwischen neun und zehn Uhr an einem zentralen Platz der Stadt trafen, um auf ihren Ausreiseantrag aufmerksam zu machen. Dem „Weißen Kreis“ schlossen sich immer mehr Ausreisewillige an, so daß nach acht Wochen das MfS eingriff und, um Demonstranten anderer Städte abzufangen, die Stadt Jena nach außen abriegelte. Fast 200 Menschen waren inzwischen gekommen und protestierten stumm. Obwohl - besser: weil - die 30 Initiatoren dieser Widerstandsbewegung rasch ausgesiedelt wurden, nachdem westliche Medien darüber berichtet hatten, bildeten sich weitere „Weiße Kreise“ in anderer Städten der DDR. Neben zahlreichen Verhaftungen von Menschen, die lediglich schweigend herumstanden und weiße Kleidung trugen, kam es auch zu Abschiebungen der „härtesten Fälle“ in den Westen.

Daher ist die These, daß führende DDR-Funktionäre gezielt Ausbürgerungen nutzten, um erstens die innere Stabilisierung des Systems und zweitens eine dauerhafte Schwächung des Widerstandspotentials zu erreichen, weit verbreitet. Diese Effekte mögen in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre, zuletzt jedoch 1984 nach der Besetzung der deutschen Botschaft in Prag, tatsächlich erreicht worden sein. In Wirklichkeit traten allerdings nur kurzfristig die erhofften „Erfolge“ ein. Als schließlich an „jenem denkwürdigen Messemontag, im Frühjahr 1989, ... mehrere hundert Antragsteller nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche mit ihrem Anliegen auf die Straße und somit auch vor die Kameras westlicher Journalisten traten“, konnte das MfS, um sich der „Störenfriede“ endgültig zu entledigen, nur noch mit der Aktion „Auslese“ parieren: Reichlich 4.000 Leipziger Ausreiseantragsteller wurden in kürzester Zeit übergesiedelt. Diese schwere Niederlage ist Beweis dafür, daß spätestens zu diesem Zeitpunkt die Allmacht der herrschenden SED-Instanzen gebrochen war.

„Auf Dauer erwiesen sich die Ausgereisten - vor allem infolge ihrer sogenannten ‚Rückverbindungen’ - als Zeitbombe“, bemerkt Bernd EISENFELD als einer der ersten Politikwissenschaftler, die sich mit dem Komplex Ausreise befassten, und gelangt zu folgenden „interessanten und so nicht erwarteten“ Erkenntnissen:

„Erstens: Zu keinem Zeitpunkt gelang es dem Machtapparat der DDR, die seit Mitte der 70-er Jahre entstandene Ausreisebewegung in den Griff zu bekommen. Alle vom MfS durchgespielten taktischen und strategischen Varianten zur sogenannten ‚Zurückdrängung’ und zur Bekämpfung von Aktivitäten der Antragsteller verfingen sich in einem Teufelskreis und endeten in einer unausweichlichen Sackgasse. Die Ausreisebewegung - als eine eher spontane Massenbewegung - belegt, wie in der DDR in objektiver Weise Ohnmacht zur Macht und Macht zur Ohnmacht führen konnte.
Zweitens: ... Sie (die Ausgereisten / WM) trugen ganz wesentlich zur Dynamisierung der Ausreisebewegung bei und stärkten auf diese Weise ein widerständiges Potential, das letztlich in Verbindung mit der im Sommer 1989 rapid angestiegenen Fluchtbewegung die Öffnung der deutsch-deutschen Grenzen erzwang und den Zusammenbruch des SED-Regimes auslöste.“ Denn das hier als „widerständiges Potential“ bezeichnete Phänomen und der damit in Zusammenhang zu bringende Wille, grundlegende Veränderungen in der DDR auch und gerade vom Westen aus herbeizuführen, ist den längst Übergesiedelten nie verloren gegangen. Dies hatte freilich auch das MfS erkannt, indem es in einer Jahresanalyse feststellen mußte, „daß besonders umfangreiche feindlich-negative Aktivitäten durch Personen zu verzeichnen sind, die die DDR ungesetzlich verlassen haben, mit staatlicher Genehmigung übergesiedelt sind bzw. in die BRD oder nach Westberlin ausgewiesen wurden.“ Sämtliche folgende Analysen des Ministeriums für Staatssicherheit kamen zu gleichen Ergebnissen, nämlich daß ein „großer Teil feindlicher Aktivitäten zur Inspirierung und Instruierung von Bürgern der DDR zu rechtswidrigen Übersiedlungsversuchen“ auf die nach wie vor existierenden „Rückverbindungen“ zurückzuführen sei.

Mit massiven und permanenten Versuchen, diese für das SED-Regime verhängnisvolle Entwicklung einzudämmen, erreichte das MfS zwar die flächendeckende Überwachung der Ausreiserszene sowie die Verfol-gung besonders „hartnäckiger“ Ausgereister in deren neuen Heimat, der Bundesrepublik; den Widerstand, den die Ausreisewilligen insgesamt leisteten, konnte sie allerdings zu keinem Zeitpunkt brechen.

Übersichtstabellen: Antragstellungen auf „ständige Ausreise“ aus der DDR
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Wolfgang Mayer:
Flucht und Ausreise

Anita Tykve Verlag, Berlin (2. Auflage)
730 S. (incl. 200 S. Aktenteil),
24,90 Euro ISBN 3-925434-97-6

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